Der klassische Innovationswettbewerb wird durch drei Innovationsparadigmen (auch Innovationsziele) bestimmt: Differenzierung, Geschwindigkeit und Disruption. Insbesondere im hyperdynamischen Innovationswettbewerb scheint jedoch ein viertes Innovationsparadigma zunehmend wichtiger zu werden: das Denken in Optionen. Damit verbunden ist auch eine Veränderung im Managementfokus.
Die drei bekannten Innovationsparadigmen im klassischen Innovationswettbewerb
Der klassische Innovationswettbewerb ist durch eindimensionale Produkt- und Prozessinnovationen bestimmt. Eindimensional bedeutet, dass die genannten Innovationen sequentiell vorangetrieben werden. Diese eindimensionalen Produkt- und Prozessinnovationen führen häufig dann auch zu Veränderungen des operativen Geschäftsmodells (z.B. Änderung der Wertschöpfungspartner, Änderung des Kosten- und Erlösmodells) (vgl. Eckert 2014 und 2016). Häufig bleibt dieser klassische Innovationswettbewerb auf eine bekannte Branche fokussiert.
Dieser bekannte und klassische Innovationswettbewerb ist durch drei bekannte Innovationsparadigmen (häufig auch Innovationsziele) geprägt, durch die ein Wettbewerbsvorteil entsteht (vgl. Eckert 2016c): Differenzierung, Geschwindigkeit und Disruption.
- Differenzierung steht für die Schaffung von innovativen Nutz- bzw. Mehrwerten für die Kunden. Entscheidend für den Erfolg einer Produkt- und Prozessinnovationen ist es, den Kunden Nutzenkriterien anzubieten, die einen Mehrwert bieten.
- Geschwindigkeit („first-to-market“, „speed-to-market“, „time-to-market“) beschreibt die Zeit, welche ein Unternehmen benötigt, um eine Innovation – ein neues Produkt bzw. eine neue Dienstleistung – auf den Markt zu bringen. Je schneller dies gelingt, bzw. je kürzer die benötigte Zeit ist, desto eher hat das Unternehmen die Möglichkeit, eine positive Marge und einen positiven Cashflow zu generieren.
- Unter einer Disruption versteht man eine Innovation, welche einen (radikalen) Bruch mit den vorhandenen Angeboten, Prozessen, Technologien, etc. darstellt. Die Innovation liefert z.B. vollkommen neue Nutzenkriterien, oder kombiniert vorhandene Nutzenkriterien in einer vollkommen neuen Art und Weise. Disruptive Innovationen entstehen nach Christensen insbesondere in neuen Märkten oder in unteren Preissegmenten (vgl. Christensen et. al. 2016).
Unter diesen drei bekannten Innovationsparadigmen wird der Geschwindigkeit ("First-Mover-Advantage") häufig eine besondere Bedeutung zugewiesen. So zeigten verschiedene Untersuchungen in der Vergangenheit, dass die ersten drei Unternehmen im Markt teilweise bis zu 90 Prozent des Markt-/Ergebnispotenzials abschöpfen konnten. Damit schien festzustehen, dass es von Vorteil ist, mit dem richtigen Produkt/Service früh auf den Markt (Geschwindigkeit) zu kommen. Diese Sichtweise wird noch dadurch verstärkt, dass Produkt- und Service-Lebenszyklen und damit auch die Nutzungsdauer eines Wettbewerbsvorteils zunehmend kürzer werden (vgl. Eckert und Grübel 2014).
Die drei bekannten Innovationsparadigmen im digitalen Innovationswettbewerb
Aktuell wird dieser klassische Innovationswettbewerb durch die Digitalisierung von Produkten und Prozessen geprägt. Unternehmen treiben nun digitale Produkt- und Prozessinnovationen voran, welche dann auch häufig zu digitalen Veränderungen des (operativen) Geschäftsmodells führen. Einige Beispiele verdeutlichen dies (vgl. Eckert 2016):
- Differenzierung: Durch den Einsatz digitaler Technologien versuchen Unternehmen, den Kunden besser kennenzulernen. Durch dieses Wissen soll die Differenzierung der eigenen Produkte/Services vom Wettbewerb (weiter) verstärkt werden. So nutzt z.B. AUDI digitale Algorithmen zur Co-Entwicklung eines neuen software-basierten Infotainment-Systems mit den Kunden zusammen. In einem kontinuierlichen iterativen Prozess wurden Fragen zu den Nutzen-/Produktanfor-derungen gestellt, Kundenantworten bewertet, die Fragen durch das System weiter detailliert und die Ergebnisse kontinuierlich in den Entwicklungsprozess wieder eingebracht.
- Geschwindigkeit: Durch die genannte Kundenorientierung wird grundsätzlich auch der Entwicklungsprozess beschleunigt. Des Weiteren tragen auch web-basierte Open-Innovation-Plattformen zu einer weiteren Beschleunigung durch die Internalisierung von externem Wissen bei. Diese Möglichkeiten werden von einer zunehmenden Anzahl von Unternehmen bereits aktiv genutzt (z.B. P&G, Intel, Microsoft, Google, BASF, Nestle).
- Disruption: Durch die Digitalisierung entstehen zunächst digitale Produkte und Dienstleistungen. Disruptiv werden diese Neuerungen häufig dann, wenn an den Produkt- und Dienstleistungsinnovationen ansetzende disruptive Geschäftsmodelle einen neuen Kundennutzen generieren. So baut z.B. General Electric Sensoren in Flugzeugtriebwerke ein, um Kunden durch disruptive digitale Dienstleistungen (u.a. Predictive Maintenance Analytics) in Echtzeit kundenspezifische Wartungsempfehlungen und -leistungen anbieten zu können.
Diese Beispiele aus dem digitalen Innovationswettbewerb verdeutlichen, dass der Innovations-geschwindigkeit in diesem digitalen Innovationswettbewerb weiter eine besondere Bedeutung zukommt. Die Erhöhung der Entwicklungsgeschwindigkeit wird jedoch nicht mehr nur durch klassische Prozessoptimierungen (z.B. Lean/Fast Innovation in der Entwicklung) erreicht. Vielmehr wird zunehmend versucht, durch digitale Technologien den (potenziellen) Kunden noch stärker einzubinden, um dadurch auch die Entwicklungsgeschwindigkeit zu erhöhen. Zudem scheint sich der Schwerpunkt im digitalen Innovationswettbewerb zunehmend auf den schnellen Aufbau von neuen digitalen Geschäftsmodellen zu fokussieren, um das eigene Unternehmen digital zu transformieren ("das eigene Geschäftsmodell digital angreifen").
Das Denken in Optionen als neues Innovations-paradigma im digitalen Hyperwettbewerb
Der digitale Hyperwettbewerb (hyperdynamischer digitaler Innovationswettbewerb) unter-scheidet sich deutlich vom klassischen und auch vom digitalen Wettbewerb. So existiert kaum noch ein Wettbewerb um den richtigen Transformationspfad. Unternehmen müssen permanent vorbereitet sein, kurzfristig auf vorhersehbare und unvorhersehbare Veränderungen im Wettbewerbsumfeld (Branche und Wettbewerbsarena, vgl. Eckert 2016a und 2016b) reagieren zu können. Dies hat zur Folge, dass dem hyperdynamischen digitalen Innovationswettbewerb um Chancenanteile eine zunehmende Bedeutung zu.
Dabei geht es in diesem Innovationswettbewerb um Chancenanteile insbesondere um multidimensionale Innovationen. Zu multidimensionalen Innovationen werden eindimensionale Innovationen dann, wenn ein Unternehmen mindestens zwei eindimensionale Innovationstypen gleichwertig miteinander verbindet. Lean Start-up ist in diesem Verständnis eine multidimensionale Innovation, welche Produkt- und (operative) Geschäftsmodellinnovation miteinander verbindet.
In diesem hyperdynamischen Innovationswettbewerb (um Chancenanteile) verändern sich die drei bekannten Innovationsparadigmen; zudem ist ein viertes Innovationsparadigma – das Denken in Optionen – im Entstehen. Dieses vierte Innovationsparadigma scheint zunehmend im Mittelpunkt zu stehen. Zudem ist dieses vierte Innovationsparadigma eng verbunden mit dem Business Model Prototyping (vgl. Eckert 2016d):
- Optionen: Im Chancenanteilswettbewerb geht es zunächst um einen pro-aktiven Aufbau eines Portfolios von Optionen. Dies wird zunehmend auf der Grundlage von Strategic Foresighting (im Gegensatz zur Szenarioplanung) geschehen. Auf der Basis von Entwicklungstrends, Technologietrends, Veränderung der Bevölkerungsstrukturen, erwartete Veränderungen der Lebensgewohnheiten der Menschen werden Bilder der Zukunft entwickelt, bei welchen keine Anknüpfung zur aktuellen Realität (im Gegensatz zur Szenarioplanung) eines Unternehmens vorhanden sein muss. Aus diesen Bildern werden zukünftige Kundenbedürfnisse, Produktideen und Business Model Prototypes abgeleitet (vgl. Eckert 2014 und 2016):
So spaltete Alibaba auf der Grundlage von Strategic Foresighting die erfolgreiche Tochter Taobao in drei unabhängige Unternehmen mit demselben Geschäftsmodellkern (Business Model Prototype) auf. Gleichzeitig wurden die drei neuen Unternehmen auf die Befriedigung von verschiedenen zukünftig möglichen Kundenbedürfnissen ausgerichtet. Im Ergebnis hat Alibaba mit Tmall einen Marktführer im B2C-Handelssektor, mit Taobao einen Marktführer im C2C-Handelssektor sowie mit Etao einen Nischenanbieter etabliert.
- Differenzierung: Aus den Optionen – der Kombination von Kundenbedürfnissen, Produktideen und Business Model Prototypes – werden in enger Abstimmung mit den potenziellen Kunden konkrete Produkt- und operative Geschäftsmodell-innovationen („jobs-to-be-done“ in Verbindung mit einem erweiterten Business Model Prototype) erarbeitet. Differenzierung entsteht zukünftig zunehmend aus multidimensionalen Innovationen (vgl. Eckert 2016).
- Geschwindigkeit: Geschwindigkeit beschreibt die Zeit, welche ein Unternehmen benötigt, um eine Innovation auf den Markt zu bringen. Dieser First-Mover-Advantage wird weiter wichtig bleiben. Voraussetzung für eine hohe Geschwindigkeit ist jedoch zunehmend ein Denken in Optionen als neues Innovationsparadigma.
- Disruption: Betrachtet man aktuelle disruptive Innovatoren (z.B. Uber, Tesla, AirBnB), so kann man feststellen, dass im Chancenanteilswettbewerb neue disruptive Opportunitäten insbesondere durch Wettbewerber mit neuem/anderem Geschäftsmodellkern (Business Modell Prototype) – strategische Kompetenz, strategische Prozesse, strategische Ressourcen, Markenimage und Geschäftslogik – im Vergleich zum vorherrschenden/etablierten Geschäftsmodellkern in der Branche entstehen.
Ein kurzer Ausblick auf das Innovationsmanagement im digitalen Hyperwettbewerb
Der klassische First-Mover-Advantage beschreibt im Allgemeinen den Übergang vom klassischen Wettbewerb um Chancenanteile zum Wettbewerb um Marktanteile. Hier haben Unternehmen versucht, (radikale) eindimensionalen Produkt- und Prozessinnovationen mit/ohne anschließenden Geschäftsmodellinnovationen schnell auf den Markt zu bringen, um schnell einen Wettbewerbsvorteil zu generieren. Danach wird ein Unternehmen im klassischen Wettbewerb aber nur erfolgreich bleiben, wenn es gelingt, den Wettbewerbsvorteil – durch inkrementelle Innovationen und Performanceverbesserungsprogramme – möglichst lange zu nutzen (vgl. Abb. 1). Im digitalen Wettbewerb hat sich das Bild nicht so sehr verändert – digitale Geschäftsmodelle haben jedoch zusätzlich an Bedeutung gewonnen (vgl. Abb. 2).
Im zukünftigen digitalen Hyperwettbewerb ist die Geschwindigkeit weiter ein wichtiger Treiber. Dies gilt umso mehr, da zukünftig für den Übergang vom Hyperwettbewerb um Chancenanteile zum Hyperwettbewerb um Marktanteile immer weniger Zeit zur Verfügung stehen wird (vgl. Abb. 3).
Wichtig ist es deshalb, durch multidimensionale Innovationen pro-aktiv ein Portfolio erfolgsversprechender Produkt- und Geschäftsmodelloptionen zu identifizieren und durch Experimente voranzutreiben. Nur ein Optionen-Portfolio schafft die Grundlagen für den zukünftigen Geschwindigkeitswettbewerb. Das wird durch unternehmensinternes Business Development und durch unternehmensinterne Innovationsfabriken (vgl. Eckert 2016) alleine nicht (mehr) gelingen. In der Konsequenz muss ein Managementteam im digitalen Hyper-wettbewerb in einem noch stärkeren Maße pro-aktiv agile und selbst-synchronisierende Team- und Organisationsmodelle gestalten, um die interne Geschwindigkeit, die Agilität und die Interoperabilität insgesamt zu steigern (vgl. auch Eckert 2016e und 2017).
Gleichzeitig wird ein Unternehmen zunehmend ein geschäftsmodellfokussiertes Corporate Venturing (genauer: ein Business Model Prototype-fokussiertes Corporate Venturing) anstelle eines „rein“ technologie- und produktorientierten Corporate Venturing aufbauen müssen. Dies wird Auswirkungen auf den Investitionsfokus von Corporate Venturing in der Zukunft haben (vgl auch allgemein zu M&A und Post Merger Integration Eckert 2014).
... Fortsetzung folgt...
Ergänzende/vertiefende Literatur:
Christensen, C., Raynor, M. und McDonald, R. (2016), Was ist disruptive Innovation?, in Harvard Business Manager, Januar 2016.
Eckert, R. (2014), Business Model Prototyping. Geschäftsmodellentwicklung im Hyperwettbewerb. Strategische Überlegenheit als Ziel, Springer Gabler, Wiesbaden.
Eckert, R. (2016), Business Innovation Management. Geschäftsmodellinnovationen und multidimensionale Innovation im digitalen Hyperwettbewerb, Springer Gabler, Wiesbaden.
Eckert, R. (2016a), Herausforderung Hyperwettbewerb in der Branche. Strategie und strategisches Geschäftsmodell im Fokus, essentials-Reihe, Springer Gabler, Wiesbaden.
Eckert, R. (2016b), Herausforderung Hyperwettbewerb in Wettbewerbsarenen. Strategie und strategisches Geschäftsmodell im Fokus, essentials-Reihe, Springer Gabler, Wiesbaden.
Eckert, R. (2016c), Lean Startup in Konzernen und Mittelstandsunternehmen. Ergebnisse einer Expertenbefragung und Handlungsempfehlungen, essentials-Reihe, Springer Gabler, Wiesbaden.
Eckert, R. (2016d), Business Model Prototype. Der Kern des Geschäftsmodells, in: https://www.linkedin.com/pulse/business-model-prototype-der-kern-des-prof-dr-roland-eckert
Eckert, R. (2016e), Wie gestaltet man zukunftsfähige Organisationsstrukturen, in Roehl, H. und Asselmeyer, H., Organisationen klug gestalten - Kompetenzen für eine komplexe Welt, Schäffer-Poeschel, Stuttgart.
Eckert, R. (2017), Warum Daimler auf die Schwarm-Organisation setzt, in: https://www.linkedin.com/pulse/warum-daimler-auf-die-schwarm-organisation-setzt-eckert
Eckert, R. und Grübel, H. (2014), Das Ende der Wettbewerbsvorteile, in Lünendonk Handbuch Consulting 2014.